Online gehen oder Schlange stehen?

VON Dr. Wolf SiegertZUM Donnerstag Letzte Bearbeitung: 4. Januar 2024 um 20 Uhr 58 Minuten

 

Gestern trafen diese beiden Meldungen ein, die hier zunächst in einen direkten Bezug gestellt werden:

A.

Andreas Streim, Pressesprecher und Marc Danneberg, Bereichsleiter Public Sector und Michael Pfefferle
Bereichsleiter Smart City & Smart Region, alle Bitkom e.V., schreiben am 3. Januar 2024:

Gänge aufs Amt kosten im Schnitt 2 Stunden und 21 Minuten

Personalausweis verlängern, Kindergeldantrag stellen oder sich nach dem Umzug ummelden: Für die meisten Bundesbürgerinnen und Bundesbürger sind Behördengänge echte Zeitfresser. Im Durchschnitt dauert der Besuch auf dem Amt 2 Stunden und 21 Minuten. Dabei entfallen 57 Minuten auf die An- und Abreise, 48 Minuten auf die Wartezeit vor Ort sowie 36 Minuten auf die Bearbeitung des Anliegens selbst. Das sind Ergebnisse einer repräsentativen Befragung unter 1.007 Menschen in Deutschland ab 18 Jahren im Auftrag des Digitalverbands Bitkom. „Das Ziel muss sein, künftig alle Behördenkontakte digital abzuwickeln. Die Menschen in Deutschland würden dadurch viel Zeit sparen. Vor allem aber würde der Aufwand in den Behörden durch einen vollständig digitalen Antrags- und Bearbeitungsprozess drastisch reduziert“, sagt Bitkom-Präsident Ralf Wintergerst.

Dabei unterscheiden sich die Zeiten zwischen kleineren und größeren Städten kaum. So beträgt der durchschnittliche Zeitaufwand für den Behördenbesuch in einer Großstadt 2 Stunden und 18 Minuten, in einer Mittelstadt mit 20.000 bis 100.000 Einwohnern 2 Stunden und 20 Minuten und in einer Kleinstadt von 5.000 bis 20.000 Einwohnern 2 Stunden 21 Minuten. Wer allerdings in einer ländlichen Gemeinde mit weniger als 5.000 Einwohnern lebt, hat mit durchschnittlich 72 Minuten einen deutlich höheren Aufwand für die An- und Abreise und benötigt so im Schnitt 2 Stunden und 33 Minuten für den Behördenbesuch.
Dabei kann man sich schon glücklich schätzen, wenn man überhaupt zeitnah und unkompliziert einen Termin auf dem Amt bekommt. Rund die Hälfte (51 Prozent) hatte Schwierigkeiten bei der Terminzuteilung. Für 16 Prozent gestaltete sich die Terminfindung eher schwierig, für 35 Prozent war sie sogar sehr schwierig.

Hinweis zur Methodik: Grundlage der Angaben ist eine Umfrage, die Bitkom Research im Auftrag des Digitalverband Bitkom durchgeführt hat. Dabei wurden 1.007 Personen in Deutschland ab 18 Jahren telefonisch befragt, darunter 968 Personen, die schon persönlich bei einer Behörde waren. Die Befragung fand im Zeitraum von KW 36 bis KW 38 2023 statt. Die Gesamtumfrage ist repräsentativ. Die Fragestellungen lauteten: „Wie viel Zeit haben Sie etwa für die An- und Abreise Ihres letzten Behördengangs aufgewendet?“; „Wie lange haben Sie etwa vor Ort in der Behörde gewartet?“; „Wie lange hat die Vorort-Bearbeitung in der Behörde etwa gedauert?“; „Denken Sie an Ihren letzten Behördengang wie Ummeldung, KFZ-Anmeldung oder eine Ausweisbeantragung. Hatten Sie Schwierigkeiten für diesen Behördengang einen Termin zu bekommen?

B.

Die "Kurzstrecke"-Redaktion mit Anke Myrrhe und Lotte Buschenhagen vom Tagesspiegel Checkpoint schreiben am Mittwoch, 03.01.2024, unter der Schlagzeile: „Arbeiten nun wieder analog“: Bürgerämter im Ausnahmezustand

Guten Morgen Herr Siegert,

sollte Sie die Sorge umtreiben, hier über die Feiertage womöglich etwas verpasst zu haben, können wir Sie gleich beruhigen. Erste Meldung des Presse- und Informationsamts des Landes Berlin im neuen Jahr: „Bürgerämter sind geöffnet – Einschränkungen im Normalbetrieb.“ Alles beim Alten, könnte man also meinen, auch das Behördenkauderwelsch:

„Wie in der vergangenen Woche mitgeteilt, hatte das IT-Dienstleistungszentrum Berlin (ITDZ) eine technische Fehlfunktion in einer Datenbank festgestellt, die zu Problemen in einem Fachverfahren führt, das die Bürgerämter insbesondere im Bereich des Meldewesens für ihre Dienstleistungen verwenden. Alle Beteiligten wie das ITDZ und das Landesamt für Bürger- und Ordnungsangelegenheiten (LABO) arbeiten nach wie vor mit Hochdruck an der Behebung der technischen Probleme.“

Auf den zweiten Blick allerdings wird es dann doch etwas dramatischer. In einer internen Nachricht, die bereits am 27. Dezember an die Bezirke verschickt wurde (liegt dem Checkpoint vor), klingt das so: „Dies führt dazu, dass die Dienstleistungen in den Bürgerämtern zum überwiegenden Teil nicht erbracht werden können.“ Es folgt eine Arbeitsanweisung in zehn Schritten, wie zumindest Wohnungsanmeldungen trotzdem klappen können („Die Dokumente sind im Rahmen der Vorsprache gemeinsam auszufüllen, sollten diese nicht beigebracht werden“).

Dem Checkpoint bestätigte die Senatskanzlei am Abend, dass die Probleme nach dem Einspielen eines Updates aufgetreten sind. „Ob das Update tatsächlich die Ursache der Fehlfunktion war, wird derzeit noch analysiert.“

Bis dahin wird wieder mit Zettel und Stift gearbeitet – kein Witz. Zitat eines Stadtrats für Bürgerdienste: „Wir haben uns mit der Senatskanzlei auf einen Notbetrieb geeinigt und arbeiten nun wieder analog.“

Falls Sie nicht gerade einen neuen Perso brauchen, versuchen Sie es positiv zu sehen: Im Normalzustand scheint es offenbar ein Mindestmaß an Digitalisierung zu geben.

C.

Anstatt diese beiden Meldungen nochmals auszukommentieren, hier der Verweis auf eine Reihe von themenverwandten Beiträgen aus den letzten Jahren:

 Leben ohne Internet?!
 Die Buchmesse wird 75! Und die vom System jeweils Totgesagten?
 4 (vier!) Monate, um einen Ausweis auszustellen
 Zwei Niederlagen für Deutschland
 Anlagen für die Behördenpost
 Die DNB und das Digitale Nationale Bewusstsein (II)
 Die DNB und das Digitale Nationale Bewusstsein (I)
 Die 3. Kerze gegen den Sieg der Dummheit
 Alles wird auf die NutzerInnen abgewälzt
 Das ist doch der ... Digital Gipfel?!
 Haste mal ’nen Termin, Berlin?
 Zurück ins Analoge: Geht’s noch krasser?
 e-Gov BLN: ein Praxis-Bericht
 Berlin Open Data
 Mann sucht Reisepass...
 Mann sucht Spritze...
 Ein KanInCHen starrt auf die Schlange IBB
 [...]

Dass diese Probleme auch auf Anwenderseite schon seit noch viel längerer Zeit bestanden haben, dazu hier diese Beispiel-Beiträge:
 "ELSTER" eingeMEINden?
 Der Digitale Bürger NullkommaNeun
 115? Der Nächste bitte!
 ELSTER Plus Partner PKS
 wolf.siegert@NN.de-mail.de

Auch wenn die hier aufgelisteten Beiträge keinen Anspruch auf Vollständigkeit erheben und vielleicht in wenigen Fällen auch durch Anwendungsfehler ausgelöst wurden, lässt die nicht nachlassenden Häufigkeit der Anforderungen erstaunen, ja in einigen Fällen schier verzweifeln. Was ist mit all jenen Menschen, die sich diesen Herausforderungen nicht haben stellen können - oder auch (nicht mehr) wollen?

Jeder dieser Einträge markiert jeweils das Ereignis eines Tages, das an diesem die jeweils deutlichsten Spuren hinterlassen hat. Nach solchen Einträgen kam über die Jahre auch immer wieder die Frage auf, ob es wirklich im Interesse der LeserInnen sei, solche "Lappalien" festzuhalten. Eine aus dem Moment wohl gelegentlich nachvollziehbare Frage, zumal es wahrlich nicht immer leicht ist, nach der jeweils erfahrenen ’Unbill’ dieses ganze Schlamassel auch noch in Wort und Bild möglichst sachlich und korrekt festzuhalten. Aber der Rückblick macht deutlich, dass es hier in vielen Fällen um Herausforderungen ging - und geht, die eben nicht auf den Rücken der Betroffenen ausgetragen werden sollten - und dürfen.

Bleibt also nur zu hoffen, dass es im beiderseitigen Interesse, der LeserInnen wie des Autors, in diesem Jahre möglichst wenig dieser Art von Beiträgen gibt!


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