Klausur, Tag 12 (Das ABC... für die Nachgeborenen)

VON Dr. Wolf SiegertZUM Montag Letzte Bearbeitung: 4. Februar 2024 um 18 Uhr 51 Minuten

 

In der Vorwoche gab es einen Beitrag, in dem auf die eigenen Arbeiten mit Bezug auf das Werk von Bert Brecht [1] verwiesen wurde: Klausur, Tag 8 (Brecht in VR: Playtest). Und in der Folge des zu Beginn dieser Vorwoche geführten Gesprächs gab es eine klare Entscheidung, dass dieses Buch als Sachbuch verfasst und zunächst an jene gerichtet werden wird, die sich als noch in der dominant analogen Welt Geborene den Herausforderungen der fortschreitenden Digitalisierung gestellt und in vielen Fällen zu deren Ausgestaltung mit beigetragen haben.

Eine Entscheidung, die sowohl den ökonomischen Interessen des Verlages Rechnung trägt als sich aus der eigenen Biografie ableiten lässt. In dem Beitrag: Klausur, Tag 3 (The Authors Talking) wurden dann zunächst andere AutorInnen zitiert, die sich bereits diesem Thema gestellt, dazu publiziert haben und dieses jetzt auch mithilfe audiovisueller Mittel persönlich vertreten.

Zu guter Letzt wurde auch ein Video präsentiert, das vor nicht allzu langer Zeit den Autor im Dialog mit Studierenden zeigt, die sich für das Thema einer eigenen Unternehmensgründung beschäftigen oder aber schon gegründet haben. Darin werden Empfehlungen ausgesprochen, die deren Zukunft betrifft.

Bereits zuvor, in dem Beitrag vom 3. Dezember 2023 PR-Foto in (fast) eigener Sache, war ein Hinweis zu finden, wie sich eine solche Zusammenarbeit mit einem solchen noch jungen Unternehmen konkret anlässt.

In dem Gedicht AN DIE NACHGEBORENEN [2] bittet Brecht darum, unsereins mit Nachsicht zu gedenken, "wenn es soweit sein wird | Daß der Mensch dem Menschen ein Helfer ist" da wir selbst in diesen finstren Zeiten nicht haben freundlich sein können [3].

Das klingt überzeugend, und ruft doch zugleich Widerspruch hervor: denn wir stehen nicht nur in der Verantwortung unseres Tuns, mit dem wir die Welt mit immer mehr Digitalisierung überzogen haben und noch überziehen werden, begleitet von der langwährenden - trügerischen? - Hoffnung, nach dem Zweiten Weltkrieg und dem Verlöschen des Ost-West-Konfliktes jener Welt näher gekommen zu sein, in der "der Mensch dem Menschen ein Helfer ist".

Die Verwirklichung demokratischer Prinzipien in den internationalen Beziehungen, die Fähigkeit, richtige Beschlüsse zu fassen, und die Bereitschaft zu einem Kompromiss - das ist eine schwierige Sache. Es waren aber ausgerechnet Europäer, die als Erste verstanden haben, wie wichtig es ist, nach einheitlichen Beschlüssen zu suchen und nationalen Egoismus zu überwinden. Wir sind einverstanden; dies sind gute Ideen. Die Qualität der Beschlussfassungen, deren Effizienz und letzten Endes die europäische und die internationale Sicherheit hängen im Großen und Ganzen davon ab, inwiefern wir diese klaren Grundsätze heute in praktische Politik umsetzen können.

So dieser Auszug aus dem Wortprotokoll der Rede Wladimir Putins im Deutschen Bundestag am 25.09.2001. Und heute? Was bedeutet "praktische Politik" heute: Asyl für mehr als eine Million von den sechs Millionen geflüchteten UkrainerInnen, die ihr Land verlasen und in Deutschland Zuflucht gefunden haben. Während zur gleichen Zeit die Aktienmärkte ein neues Allzeithoch ausweisen, zu dem die hohen Wachstumsraten der bundesdeutschen Rüstungsindustrie massgeblich mit beigetragen haben.

Das Buch steht unter der Herausforderung, diese Spannung nicht nur auszuhalten, sondern darauf zu reagieren. Und das bedeutet: Erstens jenen sogenannten Eingewanderten in das Neuland einer digitalen Zeit auch dann nicht aus ihrer Verantwortung zu entlassen, wenn sie sich im Verlauf dieser Herausforderungen bewährt haben. Zweitens, jenen, die mit Computer & Co unter dem sanften GAFA-Diktat aufgewachsen sind, nicht allein zu lassen, auch wenn wir sogenannten "digtal immigrants" alle schon (hoffentlich) friedlich verstorben sein werden.

Daraus folgte die Notwendigkeit: Erstens einer persönlichen Positionsbestimmung, die in aller Kürze in dem Begriff des "digital residents" vorgenommen wurde. Zweitens die Verpflichtung, mehr zu schreiben, als ein Gedicht [4], sondern ein ganzes "ABC", aus dem die Prioritäten und Werte für das Über-Leben in der postdigitalen Welt zusammengesetzt werden.

Auf die seit mehr als einem Jahrzehnt gestellte Ausgangsfrage, welchen Herausforderungen wir nach der Digitalisierung begegnen werden, hier jene Bausteine, aus denen sich die Antworten herauskristallisieren lassen, die dann im Buch jeweils mit einigen Ausführungen bedacht sein werden [5].

Das Postdigitale ABC
all der Werte, derer es bedarf, um gut zu überleben:

A uthentizität [6]
B roadcast [7]
C ivilcourage [8]
D ialektik [9]
E rfahrung [10]
F antasie [11]
G eschichtsbewußtsein [12]
H eimatlichkeit [13]
I nnovationskraft [14]
J [?] iva [15]
K örperlichkeit [16]
L iebe [17]
M edi(t)ation [18]
N achhaltigkeit [19]
O ffenheit [20]
P ersönlichkeit [21]
Q uantenmechanik [22]
R esilienz [23]
S ozialverhalten [24]
T ranszendenz [25]
U [?] rteilskraft
V ielfalt [26]
W erthaltigkeit [27]
X "nicht für ein U vormachen lassen" [28]
Y [?] ouTube [29]
Z eitsouveränität [30]

Anmerkungen

[1* 10.02.1898, Augsburg, † 14.08.1956, Berlin

[2

1

Wirklich, ich lebe in finsteren Zeiten!

Das arglose Wort ist töricht. Eine glatte Stirn
Deutet auf Unempfindlichkeit hin. Der Lachende
Hat die furchtbare Nachricht
Nur noch nicht empfangen.

Was sind das für Zeiten, wo
Ein Gespräch über Bäume fast ein Verbrechen ist
Weil es ein Schweigen über so viele Untaten einschließt!
Der dort ruhig über die Straße geht
Ist wohl nicht mehr erreichbar für seine Freunde
Die in Not sind?

Es ist wahr: ich verdiene noch meinen Unterhalt
Aber glaubt mir: das ist nur ein Zufall. Nichts
Von dem, was ich tue, berechtigt mich dazu, mich satt zu essen.
Zufällig bin ich verschont. (Wenn mein Glück aussetzt
Bin ich verloren.)

Man sagt mir: iß und trink du! Sei froh, daß du hast!
Aber wie kann ich essen und trinken, wenn
Ich es dem Hungernden entreiße, was ich esse, und
Mein Glas Wasser einem Verdurstenden fehlt?
Und doch esse und trinke ich.

Ich wäre gerne auch weise
In den alten Büchern steht, was weise ist:
Sich aus dem Streit der Welt halten und die kurze Zeit
Ohne Furcht verbringen
Auch ohne Gewalt auskommen
Böses mit Gutem vergelten
Seine Wünsche nicht erfüllen, sondern vergessen
Gilt für weise.
Alles das kann ich nicht:
Wirklich, ich lebe in finsteren Zeiten!

2

In die Städte kam ich zu der Zeit der Unordnung
Als da Hunger herrschte.
Unter die Menschen kam ich zu der Zeit des Aufruhrs
Und ich empörte mich mit ihnen.
So verging meine Zeit
Die auf Erden mir gegeben war.

Mein Essen aß ich zwischen den Schlachten
Schlafen legt ich mich unter die Mörder
Der Liebe pflegte ich achtlos
Und die Natur sah ich ohne Geduld.
So verging meine Zeit
Die auf Erden mir gegeben war.

Die Straßen führten in den Sumpf zu meiner Zeit
Die Sprache verriet mich dem Schlächter
Ich vermochte nur wenig. Aber die Herrschenden
Saßen ohne mich sicherer, das hoffte ich.
So verging meine Zeit
Die auf Erden mir gegeben war.

Die Kräfte waren gering. Das Ziel
Lag in großer Ferne
Es war deutlich sichtbar, wenn auch für mich
Kaum zu erreichen.
So verging meine Zeit
Die auf Erden mir gegeben war.

3

Ihr, die ihr auftauchen werdet aus der Flut
In der wir untergegangen sind
Gedenkt
Wenn ihr von unseren Schwächen sprecht
Auch der finsteren Zeit
Der ihr entronnen seid.

Gingen wir doch, öfter als die Schuhe die Länder wechselnd
Durch die Kriege der Klassen, verzweifelt
Wenn da nur Unrecht war und keine Empörung.

Dabei wissen wir ja:
Auch der Haß gegen die Niedrigkeit
Verzerrt die Züge.
Auch der Zorn über das Unrecht
Macht die Stimme heiser. Ach, wir
Die wir den Boden bereiten wollten für Freundlichkeit
Konnten selber nicht freundlich sein.

Ihr aber, wenn es soweit sein wird
Daß der Mensch dem Menschen ein Helfer ist
Gedenkt unsrer
Mit Nachsicht.

[3Dieses Thema der Freundlichkeit findet gerade in diesen Jahren wieder ein hervorgehobene Bedeutung.
Es ist inzwischen eine ausgewiesene Tatsache, dass gerade im Dialog mit jenen von ihrer Haltung abgrundtief überzeugten Menschen der sofortige Widerspruch keinerlei Dialogqualität mit sich führt, sondern nur geduldiges Zuhören, ohne damit diese Positionen zu akzeptieren - und Nachfragen. Und, dass sich gerade im Dialog mit den KI-Instanzen diese immer wieder durch eben diese besondere Diskursqualität auszeichnen.

[4... was bereits seit vielen Jahren geschehen ist und derzeit noch unter https://twitter.com/carpecarmen eingesehen werden kann. WS

[5In Ergänzung einer ersten Liste von Begleitmedien in dem Beitrag Klausur, Tag 18 (To Do’s & Views) werden hier in der Nachfolge zu jedem dieser Begriffe Literaturhinweise genannt, die sich nach und nach ergeben haben. Will sagen, all diese Begrifflichkeiten wurden im freien Spiel der Assoziationen und des Dialoges mit Anderen nominiert und ggf. auch nochmals ausgetauscht, bevor sie dann mit dem Hinweis auf jeweils zumindest eine Quelle ergänzt wurden, wie hier am Beispiel des Wortes "L iebe" geschehen.

[6Authentizität – Wie echt kann das Ich sein? SWR2 27.12. 2021, Silvia Plahl, Candy Sauer

[7Das Radio schlägt spotity! Michel Abdollahi in "Klassik-Pop-et cetera" vom 13. Januar 2024 (Auszug):

[8"Mut in Zivil ist besser als Tapferkeit in Uniform" © Erich Limpach (1899 - 1965)

[10...

[11...

[12...

[13...

[14...

[15Jiva

[16...

[17An intimate history of humanity. Theodore Zeldin, New York : HarperPerennial 1996

[18...

[19...

[20...

[21...

[23...

[24...

[25Über Leben und Tod. Von der verändernden Kraft zeitgemäßer Mythologien von Ann Mbuti

Deutschlandfunk, Essay und Diskurs, 04.02.2024.

Es sind die christlichen und antiken Mythologien, die unser Selbstverständnis prägen, die etwa von Leben, Tod und Vergänglichkeit erzählen. Was würde sich ändern, wenn wir uns in der globalisierten Welt auf die Suche nach alternativen Erzählungen begeben?

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