Kerala (XVI)

VON Dr. Wolf SiegertZUM Donnerstag Letzte Bearbeitung: 26. November 2023 um 14 Uhr 08 Minutenzum Post-Scriptum

 

Rockholm Blues

I.
Du wachst auf. Du bist allein.
Wenn Du nichts tust, tut sich nichts.
Also schaltest Du den Fernseher an.
Das erste Mal nach zwei Wochen.
Es gibt Cricket und viele Kriegstote.
Der TV-Ton auf IP-Basis knarzt.
Du schaltest den Fernseher wieder aus und wendest Dich Dir selbst zu.

II.
Jetzt wird Wasser erhitzt für das flüssige Medikament.
15 ml Substanz und dann 45 ml Wasser dazu.
Auch so verdünnt schmeckt das Zeug nicht, aber es soll gesund sein.
Du tust, was die Ärztin Dir sagt, aber wie weit geht das mit dieser Art des Vertrauens?
So unterschreiben die meisten Gäste bei der Konsultation eine Einwilligungserklärung, ohne das Papier zuvor gelesen zu haben.
Hier in Indien, sagt die Ärztin, würde man das alles eh‘ nicht so genau nehmen wie in Europa.
Sind also die EuropäerInnen hier vor Ort mehr Inder, als wir glauben?

III.
Nein, wir bleiben, wer wir sind.
Wir werden auch so angenommen, aber werden wir so wirklich für voll genommen?
Es gibt sicherlich all jenen zurückhaltenden Abstand, der vom Personal uns gegenüber verlangt wird.
Aber auf der anderen Seite erfahren uns die Therapeuten in einer Nähe, die uns selbst ungewohnt sein mag.
Sie kennen im Verlauf der ‚Treatment‘-Tage und Wochen unsere Körper letztlich vielleicht sogar besser als wir selbst.

IV.
Kerala ist unser Traumziel für zwei bis vier Wochen, aber was bedeutet Europa für die, die hier leben und arbeiten?
Fragen, die sich die Gäste hier kaum zu stellen scheinen
Am schlimmsten fällt eine Gruppe deutlich vernehmbarer Deutsch sprechender Frauen auf.
Sie finden sich zu immer wieder neuen, unendlich andauernden Gesprächszirkeln zusammen.
Was sicher schön ist für sie, sich mal ohne die Männer über diese austauschen zu können.
Nachvollziehbar, ihnen echt zu gönnen, verständlich …
… aber das Geschnatter nimmt selbst am Abend während einer traditionellen Musikaufführung kein Ende.
Es bedarf höchster Disziplin und Zurückhaltung, ihnen während einer Pause bei der Tonaufnahme nicht zuzurufen
„Bitte noch ein wenig lauter reden, damit man Sie auch bei der Konzertwiedergabe gut verstehen kann.“
Für diese Damen hätte echt eine Richard Claydermann-CD gereicht.

V.
Du bist und bleibst hier allein. Bekanntschaften? Ja, zwischen EuropäerInnen only.
Aber Du hast die Chance, Dir hier den Respekt der Leute zu erwerben.
Durch Deine Aufmerksamkeit und Geduld, Offenheit und Klarheit, Besonnenheit und Bescheidenheit.
Und dadurch, dass Du spürbar, erfahrbar werden lässt, wie Du das Thema Respekt konkret verstehst.
Im eigenen Fall durch die auf den Seiten zuvor abgebildeten Porträts jener Personen, mit denen wir am meisten zu tun haben.
Wohl wissend, dass so viele andere, die hier in diesem Hause ihre Arbeit machen, nicht diese Aufmerksamkeit erfahren.

VI.
Beim Schreiben dieser Zeilen wird zunächst nur erfahrbar, dass Du, wenn Du schreibst, nicht mehr allein bist.
Alle jene Menschen, die Du hier vor Ort erlebst, über die Du nachdenkst und schreibst, werden Teil von Dir.
Sie werden Teil einer Öffentlichkeit, an der Du als Scharnier dieser Wahrnehmung publizierend Deinen Anteil hast.
Dabei mag offenbleiben, ob diese Texte überhaupt gelesen werden – und wenn ja, von wem.
Und ob die hier angebotene Google-Übersetzung in die jeweilige Landessprache von ausreichender Qualität ist.
Es ist hier wie bei meinen Studierenden: Du glaubst, sie sprächen Englisch, und fragst Dich, ob/was sie wirklich verstanden haben.

VII.
Lächeln? Lächeln! Und dabei immer wieder den Kopf sanft hin- und herwiegen.
Obwohl hier selbst in einen japanischen Sarong gewandet, das Land des Lächelns ist hier.
Am besten an einem Abend zur Schau gestellt; Von den vier Performerinnen einer klassischen Tanzakademie.
Sobald die Musik einsetzt, sind sie die Anmut und Grazie in persönlicher Vollendung.
Aber wehe, Du nimmst sie wahr, als sie neben der Bühne ihren Unmut über die geringe Publikumszahl erkennen lassen.
Diese Gesichter sind wie aus dem TV-Plot einer Bollywood-Serie geschnitten, um darin die ‚Bösen‘ zu charakterisieren.
In der hier auf dem Zimmer eingespielten ging es um missgünstige Frauen, die auf einer Hochzeit das Glückserlebnis des Paares zu hintertreiben trachten.

VIII.
Geschichten wie diese, aufgeladen mit hoch kodierten Erfahrungssymbolen, die sich über viele Jahrhunderte, ja, über Jahrtausende hinweg eingebrannt haben und immer wieder neu in Szene gesetzt werden – und ohne die auch die neuen Film- und TV-Helden und -Stars nicht auskommen. Aber um diese Dekodieren zu können, da hilft einem auch das beste Hotelpersonal nicht weiter. Dabei ist man durchaus bemüht, Angebote zu machen. Zum Lichterfest Diwali wird sogar zu einem Feuerwerk am Strand eingeladen, das man von der Terrasse aus bewundern kann, aber diese Schnittstellen zu den Traditionen der Menschen hier vor Ort sind und bleiben Kultur-Verschnitt-Stellen.
Es sei denn, man bedient sich der zuvor skizzierten Eigenschaften. Und geht zum Beispiel auf die Einladung ein, einem Künstler bei der Entstehung einer mit farbigem Puder in den Sand gezeichneten ‚Malerei‘ beizuwohnen. Eine ganze Stunde lang vom Einrichten des Sandbettes bis zur fertigen bildlichen Darstellung. Auch hierzu hatte das Hotel eingeladen. Daran teilgenommen hatte, ausser dem Autor, niemand.

IX.
All das hier sind kurze Szenen aus einem selbst gewählten und mit Freude besuchen Getto. Dass jemand überhaupt darüber schreibt, mag sicherlich ungewöhnlich sein. Zumal es hier nicht darum geht, ‚Tripadvisor‘-Punkte zu verteilen oder sich als sogenannter Influencer aufspielen zu wollen. Sie sind nicht mehr, aber auch nicht weniger, als ein Versuch der Selbstverständigung mit dem Fremden, das uns auf so luxuriöse Weise nahegebracht wird und doch gleichzeitig so weit von uns entfernt bleibt, wie die vielen Stunden Flugzeit, die zwischen dem Abflug- und Ankunftsort liegen. Sie sind Ausdruck eines Extra-Momentums an Nachdenk-Zeit, die es zwischen all den Ereignissen hier gibt, inmitten eines – wenn auch teuer erkaufter – Luxus.

X.

[...]

WS.

P.S.

Sorry Folks, no famous last words, just some personal reflections born during my time here at your premisses. Maybe they will be supportive for even further refinements of your work – and our cultural background. “Take care” not just on us, but for yourselves.


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