Warum noch ein Buch schreiben - und, wenn ja, wie?

VON Dr. Wolf SiegertZUM Freitag Letzte Bearbeitung: 12. Oktober 2023 um 10 Uhr 59 Minutenzum Post-Scriptum

 

I.

Vor vielen Jahren wurden Waffeln vertrieben, die vor allem den Eisverzehr begleiten und anreichern sollten. Und auf jeder Einzelnen von diesen war eingeprägt das Motto:
"Noch Eine" [1].

Ein Angebot, immer gekoppelt an das Versprechen, dass nach dem Griff auf eine neue Waffel, ein weiteres Mal das Gleiche wiederholt, was man schon mit Genuss zu sich genommen hat. bis man satt ist (oder ggf. das Geld nicht mehr reicht).

Dieses ist das Los von sogenannten Erfolgsautoren, dass man ihnen immer wieder zutraut, genauso gut zu sein, wie sie es mit ihrem letzten Buch waren, auch wenn darin sicherlich nicht das Gleiche stehen wird als in dem zuvor veröffentlichten Werk.

II.

Bei Jeff ist es ganz anders. Auch er darf sich - auch wenn er das selbst von sich selbst nie sagen würde - als Erfolgsautor bezeichnen. Aber das Spannende ist, dass er im Verlauf seiner Publikationsgeschichte nach Jahrzehnten damit aufräumt, was er einst behauptet hatte: nicht nur, dass Gutenberg tot sei, sondern auch das Medium Buch.

Und dann erscheint von Jeff Jarvis anno 2023 das Buch:
The Gutenberg Parenthesis: The Age of Print and Its Lessons for the Age of the Internet

Das wichtigste Versprechen im Trigger-Text des Verlages lautet:

The Gutenberg Parenthesis traces the epoch of print from its fateful beginnings to our digital present – and draws out lessons for the age to come.

Spannend an diesem neuen Buch ist nicht nur der Sinneswandel, seit Gutenberg the Geek, sondern dass er von den Lehren spricht, die für zukünftige Zeiten von Bedeutung sein könnten / werden.

III.

Das soll hier auch geschehen. Warum hat Nicholas Negroponte noch kein weiters visionäres Buch mehr geschrieben, das auf seine Weise Bezug nimmt auf sein Opus Magnum Mitte der Neunziger Jahre des letzten Jahrtausends: b e i n g d i g i t a l [2]. Solange dieses nicht geschieht und solange "Saint Nick" [3] auch nicht bereit wäre, dazu einen weiteren Text, oder einen gemeinsamen Dialogband einem neuen Publikum anzubieten, solange besteht der Ehrgeiz, selbst Bezug zu nehmen auf "the age to come" und zu fragen, was die nächste grosse Herausforderung n a c h d e r D i g i t a l i s i e r u n g sein wird - und wie wir sie bewältigen könn(t)en.

IV.

Diese Frage erschien seit mehr als einem Jahrzehnt in den mehr als einhundert kurzen Interviews, die dazu immer wieder neu gemacht wurden, für manche Menschen unverständlich, ja absurd: Denn das mit der Digitalisierung würde doch nie aufhören, wie könne man denn überhaupt über eine Zeit danach nachdenken, geschweige denn, dafür schon heute Empfehlungen aussprechen ...

... dann aber fallen auch ihnen immer häufiger Filme und Serien, Romane und Spiele ein, in denen diese Frage vielleicht nicht explizit gestellt, aber dennoch auf eine jeweils ganz besondere Weise beantwortet wurde. Über diesen ’Umweg’ gelingt es dann doch oft, auch eine eigene Stellungnahme den Probanden zu entlocken. Und da dieses Vorgehen sich über nun mehr als ein Jahrzehnt erstreckt, ist es interessant zu beobachten, wie sich die Bereitschaft, auf diese Frage überhaupt zu antworten, verstärkt hat und was heute dazu dann auch inhaltlich dazu gesagt wird.
 [4].

V.

Was bedeutet das für die Entscheidung, heute überhaupt noch ein Buch schreiben zu wollen. Sich nicht nur allein auf den damals noch jungen Javis zu verlassen. Ja, vielleicht auch das, zumal die wenigen Begegnungen mit ihm in München und Berlin Anlass gaben, immer wieder alte Themen aus der Sicht neuer Perspektiven zu erörtern, als auch ganz neue ’Baustellen’ aufzumachen.
Es bedeutet auch, sich auf jene Qualitäten zu verlassen - ja rückzubesinnen - die nur ein Buch anzubieten hat. Und gleichzeitig, das gesamte mediale Umfeld, in dem sich Bücher heute zu behaupten haben, mit in die Vermittlungs- und Kommunikations-Strategien einzubeziehen.
Was mit Bezug auf das bisher Geschilderte bedeutet, auf YouTube, oder Vimeo, oder einem verlagseigenen Server eine ausgesuchte Sammlung von Filmen, Videos und ggf. auch Serien zusammenzustellen, in denen aus der Sicht der jeweiligen Produzenten, Drehbuchautoren und Regisseure vorgeführt wird, wie solche Welten "nach der Digitalisierung" aussehen.

VI.

Diese Bezugnahme eines Buches auf Filme hat nicht nur die Bedeutung, über diesen ’Umweg’ auf die Bedeutung des Thema zu verweisen. Sie macht zugleich auf ein Defizit auf, das damit zu tun hat, dass es immer weniger LeserInnen gibt, die sich noch über hunderte von Seiten so sehr von einem Thema gefangennehmen lassen, dass es auf diesem Wege gelingt, grosse historische Linien dramaturgisch zu entfalten und zur Geltung zu bringen. Selbst dann, wenn sie wie in einem Roman, weitgehend auf Anmerkungen und Literaturverweise verzichten.
Anders gesagt, und nochmals als Nick’s Buch anknüpfend, er hat schon vor dreissig Jahren richtig gemacht, was heute fast unumgänglich ist. Sein Buch verzichtet weder auf einen Index, noch auf eine letzte Seite, die "A Note on the Type" vorbehalten bleibt.
Aber das Buch verzichtet vollständig auf ein Literaturverzeichnis. Und in seinen "Acknowledgments" wird nochmals erläutert, dass die Basis dieser Publikation eine Serien von Kolumnen ist, die für "Wired" geschrieben wurden, eine bis dahin auch für den Autor neue Erfahrung.

VII.

Three times "Ten Years After": Ein knappes Jahrzehnt nach diesem Buch macht Rainer Werner Fasbinder den Film "Die Welt am Draht" und der Autor dieser Zeilen hatte sich damals geweigert, ihm dafür als Assistent beiseitezustehen - aber das ist der Cliffhänger für eine andere Geschichte... ein Jahrzehnt später programmierten wir für Windows for Workgroups 3.11 eine neue Schnittstelle, um die Rechner über die damals neuen digitalen ISDN-Leitungen weltweit vernetzten zu können, und das mit zuvor nicht gekannten Geschwindigkeiten. Inzwischen aber hatte Bill Gates Apple mit einem millionenschweren Scheck vor der Pleite gerettet, spätestens mit dem i-Phone wurde aus dem verkabelten auch ein mobiles Zeitalter und heute ist die Apple-Welt ein eigenes Ökosystem, mit dem seine NutzerInnen ’rund um die Uhr’ in Verbindung stehen.

Auch wenn wir an dieser Stelle nicht die Geschichte dieser 30 Jahre nacherzählen können, so sei doch daraus für heute abgeleitet: die Herausforderung an eine Autorin, an einen Autor heute bedeutet, für eine Zeitschrift zu schreiben, die, im übertragenen Sinne, "Virtual" heissen würde. Kurze, in sich kohärente Texte, die auf eine eingangs gestellte Frage konkrete Antworten, oder zumindest attraktiv klingende Spekulationen bereithalten. Und, die selbst einem TikTok-Publikum eine gewisse Lesefreude abnötigen könn(t)en.

VIII.

Bedeutet das einen Verrat an einer wissenschaftlich soliden und argumentativ kohärenten Textgenese? Wir haben uns in den vergangenen Jahren immer wieder aufs Neue dieser Frage gestellt und in vorangegangenen Publikationen zu beantworten versucht. Und auf dieser Plattform nunmehr auch schon seit 20 Jahren zur all-täglichen Praxis gemacht, das jeweils aus subjektiver Sicht ’wichtigste’ Thema des Tages anzusprechen - und vielleicht gelegentlich auch auf den Punkt zu bringen.
Dabei mag das Bemühen und die Einhaltung journalistischer Standards und Sorgfaltspflichten nicht immer den Anforderungen einer wissenschaftlichen Abhandlung Genüge getan haben. Aber zweierlei wurde erreicht. Im Kleinen die Wirkmächtigkeit von etwas viel Grösserem benennen, auf den Punkt bringen und verständlich machen zu können. Und durch die all-tägliche Praxis die Chance zu haben, Kontinuität und Spontaneität, Zufall und Zusammenhänge, Methodisches und Serendipität in ihren Interdependenzen immer wieder neu zu beschreiben - und damit auch Stück für Stück besser zu begreifen.

IX.

In Bezug auf das nächste Buch bedeutet die Antwort auf die im Punkt VIII. gestellte Frage konkret folgendes.

 Alle Fragen, mit denen die Kapitel des nächsten eigenen Buches eingeleitet werden, werden zunächst online den Rechnern zur Beantwortung anheimgestellt, - um so zu erfahren, was in diesem Buch nicht oder nicht mehr oder anders geschrieben werden muss. Und vor allem, wo die eigene gedankliche BeARBEITung einsetzen muss.

 Um auch zukünftige Perspektiven hier und jetzt zu erkunden, nicht nur auf dem GitHub-Account die Möglichkeiten für ein von einem digitalen CoPiloten begleiteten Programmieren weiter ausgebaut, sondern die Entscheidung getroffen, ein You.com-Pro-Abo zum Preis von roundabout einhundert Dollar im Jahr zu buchen, um damit ’legal’ die Möglichkeiten und Grenzen der neuen Möglichkeiten vorformulierter Er-Kenntnisse und Bilder-Welten zu nutzen, einzubinden und zu überwinden.

 Um mit Factiverse das Thema Research & Fakt-Checking auf eine neue Qualitätsstufe zu heben, auf der sowohl den journalistischen als auch potenziellen wissenschaftlichen Ansprüchen entsprochen werden kann [5].

X.

Zu guter Letzt aber dieses: Und das ist der kontinuierliche Dialog mit den VerlegerInnen und dem Verlag - und damit auch die Absage an eine selbstverantwortete Book-On-Demand - Produktion. Diese Alternative stand einst im Raum, zumal nach dem sich weder der als Herausgeber bereits genutzte Suhrkamp-Verlag noch Ullstein wegen eines Personalwechsels als Lande- und Startbahn für das nächste Projekt bereitgestanden hätten; und Literatur-AgentInnen sich nicht in der Lage sahen, jemandem mit solch einem ungewöhnlichen Thema den Weg zu ebnen.

Der Entscheidung für Springer-Nature gingen mehrere vorab in deutschsprachigen Werken veröffentlichte Beiträge voran, entscheidend aber ist, dass in diesem Fall nach einer ersten deutschsprachigen Publikation auch eine weitere im gepflegten US-amerikanischen Englisch folgen - und für dieses internationale Publikum neu geschrieben - wird. Ebenso entscheidend aber ist, dass der Dialog über die inhaltliche Qualität und Kompetenz der Aussagen immer auch gespielt werden wird an den Möglichkeiten ihrer Vermittlung.

Wie sehen die Zeiten aus, in denen keines der Werke mehr im Rahmen einer Konferenz auf dem Büchertisch zu finden sein wird, wenn das Buch nicht mehr - wie Florian Langenscheidt rät - im Verlauf eines Interviews mindestens dreimal in die Kamera gehalten werden kann, weil es nur noch als elektronisches Format verkauft wird? Was für ein Format wird ein Buch annehmen können, das den Arbeitstitel "Beyond Digital" angenommen hat, aber nur noch in virtueller Form den LeserInnen zur Verfügung stehen wird? Gerade Fragen wie diese machen es heute wieder spannend, mit einem Verlag zusammenzuarbeiten, der sich intensiv Fragestellungen wie diesen angenommen hat und - weltweit - nach Antworten sucht.

P.S.

I.

Hier Hinweise zum Thema Online-Marketing

II.

Hier ein Interview mit Factiverse Co-Founder & CEO Maria Amelie:
#MTHCON23

© Lars Hübner

III.

Hier ein weiteres Wort - der Ermutigung - von einem weiteren Verlagsfreund, Hubert Burda, in dem Focus Online Beitrag von Marion Lenke und David Knüdeler: " ’So groß wie Gutenberg’: Hubert Burda über die digitale Revolution" aus Anlass der Vorstellung seines Buches am 9. Dezember 2014:

Ich habe an dem Buch jetzt ein paar Monate gearbeitet: Es gibt kein besseres Medium als ein Buch, um sich über all das Gedanken zu machen.

© S. Bauer für Hubert Burda Media

PPS.

Lieber Hubert: aus dem Kress-Beitrag von Ruppert Sommer vom 19. Dezember 2014: "Zuckerberg hat sich überhaupt nicht für mich interessiert", sei an dieser Stelle nochmals auf diese Seite hingewiesen:

Denn das war die Voraussetzung dafür, dass wir die "Zugmieze" mit Bildern aus den "Photo"-Agenturen direkt aus Paris per Leitung beliefern konnten.

Anmerkungen

[1

[2Dabei gibt die bei Bertelsmann verlegte deutschsprachige Version mit ihrem Titel eine interessante Richtung an, die da lautet: "Total digital Die Welt zwischen 0 und 1 oder Die Zukunft der Kommunikation."

[3wie Thomas A. Bass ihn in "Being Nicholas" benannt hat

[4Im Vorgriff auf den nachfolgenden Punkt bedeutet dieses, dass wir auch diese Interviews sowohl in anonymer Form einem reinen Audio-Konvolut in einer chronologischen Reihenfolge zur Verfügung stellen, also auch in ausgewählten Zitaten im Buch exemplarisch vorstellen werden.

[5Dieses Tool wird die bisherige Konsultation von NewsGuardnicht ersetzen können und wollen.


11458 Zeichen