Flüchten (müssen) und standhalten (wollen)

VON Dr. Wolf SiegertZUM Donnerstag Letzte Bearbeitung: 7. August 2023 um 20 Uhr 37 Minutenzum Post-Scriptum

 

Wir erinnern uns?! Am 3. Mai 2023 wurde der "Nexta" Journalist / Blogger Roman Protassewitsch von einem Gericht in Minsk zu acht Jahren Haft verurteilt, nachdem am 23. Mai 2022 sein Ryanair-Flug von Griechenland nach Litauen "in die belarussische Hauptstadt umgeleitet und dort zur Landung gezwungen wurde". Zwei weitere Journalisten wurden in Abwesenheit zu 19 bzw. 20 Jahren Haft verurteilt. Dazu Stephan Look am 3. Mai 2023 aus dem ARD-Studio in Moskau:

An diesem Tag ist in der Sendung "@mediares" im Deutschlandfunk - anmoderiert von Brigitte Baetz - dieser Beitrag von Inga Lizengevic zu hören: Zensur in Belarus: Sechs Jahre Gefängnis für den Journalisten Pavel Mazheyka

Zensur in Belarus: Sechs Jahre Gefängnis für den Journalisten Pavel Mazheyka

Verweisen wir im Umfeld dieser Ereignisse, die nur die Spitze des Eisberges ausmachen, erneut auf jene Medienmacher aus Belarus, die nach vielen Fluchtstationen in Berlin Schutz gesucht und über die wir bereits an anderer Stelle mehrfach berichtet haben, zuletzt in dem Beitrag ""Chin Chin" Makers in Bewegt-Bildern & -Tönen aus Berlin".

Aus gegebenem Anlass
> zitieren wir aus einem Anschreiben an ein dem Herausgeber auch persönlich durchaus bekanntes Mitglied des Bundestages vom 13. Juli 2023, das uns zugespielt wurde, nachdem bislang jegliche Antwort - nicht einmal eine Empfangsbestätigung - ausgeblieben ist,
> machen es in anonymisierter Form öffentlich und
> leiten jegliche der Sache dienliche Reaktion weiter, die uns über diesen Rückmelde-Button angezeigt wird.

Тема: Ich bitte um Unterstützung bei der Kommunikation mit dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge.

Sehr geehrte Frau [...],

ich hoffe, dass dieses Schreiben Sie bei guter Gesundheit und in guter Stimmung erreicht!
Mein Name ist Andrei Karalevich, ich stamme aus Minsk, Belarus. Seit fast anderthalb Jahren lebe ich mittlerweile in Deutschland, davon die letzten sechs Monate ohne festen Status, da das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge meinen Antrag auf Statusgewährung seit Ende Dezember 2022 prüft.

Lassen Sie mich Ihnen meine Geschichte etwas genauer erzählen. Im Jahr 2020 habe ich, wie viele Belarussen, an Protestmärschen gegen die undemokratischen Wahlen und das gewaltsame Vorgehen der Polizei, die das Regime von Lukaschenko unterstützte, teilgenommen. Im Herbst wurde daraufhin gegen mich ein Gerichtsverfahren eingeleitet, das schließlich aufgrund meiner zivilen Haltung zu 14 Tagen Haft führte. Danach wurde ich von der belarussischen Staatlichen Kunstakademie entlassen, an der ich zuvor Filmgeschichte- und produktion unterrichtet hatte.

Zu diesem Zeitpunkt schloss ich mich dem Team des belarussischen Medien-Startups "ChinChinChannel" an, das von entlassenen Schauspielerinnen und Schauspielern des Janka-Kupala-Theaters gegründet wurde. Dieses satirische Projekt richtet sich an das belarussische Publikum und kämpft gegen die Propaganda. Im Sommer 2021 waren wir das letzte verbleibende Projekt dieser Art, das in Belarus aktiv war. Wir begannen, Bedrohungen von Medien, die mit dem Lukaschenko-Regime zusammenarbeiten, zu erhalten. Daraufhin entschieden wir uns, als Team, das inzwischen auf zehn feste Mitglieder angewachsen war, unseren Arbeitsort nach Lemberg, Ukraine, zu verlegen. Dort war es für uns möglich, in Sicherheit unsere Arbeit weiterzuführen.

In Lemberg arbeiteten wir an einer Webserie, die anhand einer kleinen belarussischen Stadt die Sinnlosigkeit der sowjetischen Ideologie, auf der die belarussische Propaganda beruht, und die Grausamkeit des bestehenden Regimes aufzeigen. Leider wurde der Produktionsprozess durch den verräterischen Einmarsch Russlands in die Ukraine unterbrochen. Wir hielten uns legal in der Ukraine auf (vor dem Krieg konnten Belarusen bis zu 180 Tage ohne Registrierung in der Ukraine leben), jedoch gelang es nicht allen von uns, eine Aufenthaltserlaubnis zu erhalten. Aus Sicherheitsgründen beschlossen wir, aus der Ukraine in den Westen weiter zu ziehen, da eine Rückkehr nach Belarus für uns gefährlich war.

Mein Kollegen und ich erhielten eine Einladung von der Schloss Bröllin Association in Mecklenburg-Vorpommern, die uns bei der Unterbringung unterstützte, da wir ansonsten keine Unterkunft hatten. Wir bewarben uns um das Stipendium von Media in Cooperation & Transition (MiCT), das uns in Zusammenarbeit mit Reporters Without Borders half, ein Visum bis Ende 2022 zu erhalten und nach Berlin umzuziehen, wo wir unsere Arbeit remote fortsetzen konnten.

Unser Team nahm u.a. an den Dreharbeiten für arte Tracks East - “Humor als Waffe" teil und es wurde auch eine Reportage über uns für den Bayerischen Rundfunk mit dem Titel "Mit Humor gegen die Diktatur" gedreht.
Aktuell arbeiten wir eng mit der Hanns-Seidel-Stiftung zusammen. Wir haben vom 24. bis 30. Juli eine Dreh-Session in Krakau geplant, an der ich nicht teilnehmen kann, da das Bundesamt für Einwanderung meinen Antrag immer noch prüft.

Ende Dezember 2022 haben ich und 10 weitere belarussische Journalisten im Exil Dokumente für den Erhalt eines legalen Status eingereicht, wobei uns die Belarusische Gemeinschaft RAZAM geholfen hat, Anwälte zu finden. Auf Empfehlung der Anwälte haben wir uns gemäß Paragraph 24 als Flüchtlinge aus der Ukraine und gemäß Paragraph 21.5 als Freelancer beworben. In den letzten sechs Monaten haben fast alle Journalisten ihren Status erhalten, jedoch ich und ein weiterer Journalist, Dmitry Brushko, haben nicht einmal einen Termin beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge erhalten. Meine Anwälte haben regelmäßig Anfragen zu meinem Fall gesendet, aber es gibt keine Antwort vom Bundesamt. Ich brauche so schnell wie möglich Gewissheit über meinen Status, um zu wissen, wie es weitergeht und damit ich meine Zukunft planen kann. Darüber hinaus kann ich während der Bearbeitung meines Falls Deutschland nicht verlassen, was die Arbeit an dem Projekt erschwert und sich negativ auf meine finanzielle Lage auswirkt.

Zusätzlich möchte ich erwähnen, dass die belarussische Gesellschaft derzeit außerordentlich schweren Zeiten ausgesetzt ist. Die Mehrheit der Menschen ist gegen die Politik von Lukaschenko und insbesondere gegen den Krieg, aber leider leiden auch wir unter den Auswirkungen dieses Krieges. Unsere Situation scheint derzeit ausweglos zu sein.

Ein Aspekt, den ich betonen möchte, ist, dass es für russische Staatsbürger einfacher ist, eine Aufenthaltserlaubnis in Deutschland zu erhalten. Die meisten von ihnen können frei nach Russland zurückkehren, ihre Verwandten treffen und dort arbeiten. Ukrainer erhalten Unterstützung von der deutschen Regierung, und obwohl dies nicht immer sicher ist, können sie ebenfalls die Ukraine besuchen. Für Belarussen, die gegen das Regime von Lukaschenko kämpfen, besteht jedoch keine Möglichkeit, nach Hause zurückzukehren. Uns sind sowohl der Weg in die Ukraine als auch nach Russland versperrt.

Diese Situation stellt uns vor enorme Schwierigkeiten. Wir befinden uns in einer Situation, in der wir weder in unsere Heimat zurückkehren, noch sicheren Schutz in den umliegenden Ländern finden können. Die Herausforderungen, mit denen wir konfrontiert sind, umfassen Einschränkungen der Bewegungsfreiheit, fehlenden Zugang zu Unterstützung und Dienstleistungen, sowie erhebliche finanzielle Belastungen.

Ich wende mich an Sie, um Unterstützung bei der Kommunikation mit dem Landesamt für Einwanderung zu erbitten. Ich stecke in einer schwierigen Situation fest und benötige dringend Klarheit über den Fortschritt meines Antrags. Aufgrund von Sprachbarrieren und der Komplexität des Verfahrens habe ich bisher Schwierigkeiten gehabt, angemessene Antworten auf meine Anfragen zu erhalten.

Ihre Hilfe und Vermittlung wären für mich von unschätzbarem Wert. Sollten Sie bereit sein, mich in dieser Angelegenheit zu unterstützen, stehe ich Ihnen gerne zur Verfügung, um weitere Details zu besprechen und Ihnen alle erforderlichen Informationen zur Verfügung zu stellen.

Ich danke Ihnen im Voraus für Ihre Zeit und Ihre Aufmerksamkeit für mein Anliegen. Jede Anstrengung und Unterstützung, die Sie anbieten können, wird sehr geschätzt.

Mit freundlichen Grüßen,
Andrei Karalevich

P.S.

I.

Ja, die Überschrift zu diesem Beitrag nimmt Bezug auf den 2012 bereits in der 5. Auflage erneut publizierten Band von Horst-Eberhard Richter: Flüchten oder Standhalten, in den das nachfolgende PDF einen (ggf. ersten) Einblick vermittelt:

Inhaltsverzeichnis und Leseprobe

Ich muß vielmehr fortgesetzt selbstkritisch überprüfen, wie die sozialen Zusammenhänge, in denen ich lebe, mich unbewußt psychisch verändern – oder auch gerade von den Veränderungen abhalten, die zu vollziehen ich aus mir selbst heraus für notwendig halte.

II.
Das Anschreiben, aus dem hier zitiert wurde, wird am 7. August 2023 aus dem Büro der Abgeordnetin wie folgt beantwortet:

Sehr geehrter Herr Karalevich,

im Namen von [...], MdB danke ich Ihnen herzlich für Ihre E-Mail und die damit verbundene Anfrage. In Bezug auf die von Ihnen angesprochene Thematik muss ich Sie aufgrund der Zuständigkeit allerdings bitten, dass Sie sich mit Ihrem Anliegen weiterhin an das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge wenden.

Für Ihr weiteres Vorgehen wünsche ich Ihnen alles Gute.


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